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Vollmond

Er hatte immer gemeint, wir würden uns bald sehen.
Wir hatten uns mehrmals getroffen, waren Essen, im Kino, im Theater. Einige Male fanden wir uns danach auch in einem schäbigen Hotelzimmer wieder.
Mehr traute er sich nicht zu.

Und eines Abends lag ich in meinem Bett und ließ mein Leben an mir vorüberziehen. Kindheit, Schule, die eigene Familie mit Kind und Mann, die ich nicht habe, mein Job, der mich erfüllte. Ich dachte an die wachsenden grauen Haare, erste Falten in meinem Gesicht. Ich würde alt werden, irgendwann sterben, allein und vielleicht, ohne etwas zu hinterlassen.

Ich wand meinen Kopf zur Seite und sah durch das Fenster diesen riesigen Mond am Himmel und dachte: "Ich hab doch nicht viel Zeit!"
Nur wenige Jahre bleiben mir noch, dann wird alles zu Ende sein.
Das Licht würde vor meinen Augen ausgehen und ich versuchte mir vorzustellen, wie es sei, wenn die Dunkelheit mich für immer und ewig umhüllt, ich nicht mehr bin, nicht mehr denken und fühlen kann. Nichts.

Mein Herz krampfte sich zusammen und vor lauter Angst sprang ich aus meinem Bett und lief durch meine Wohnung.
Nichts?
Nichts mehr. Ich würde nicht wissen, dass ich nicht mehr lebe, würde nicht wissen, was man über mich spricht, mit mir lieber lachen würde, als zu weinen und an meinem Grab zu trauern. Jahre später würde sich keiner mehr an mich erinnern.
Könnte nicht mehr erleben, wie die Welt sich weiterdreht, wäre vielleicht nur ein wenig froh, ihren Untergang nicht erleben zu müssen. Und wo ist dann der Mond?

Die Vergänglichkeit meines Lebens schien mich zu erdrücken.
Und so wenig, wie mir noch davon blieb, ich wollte nicht mehr warten auf irgendwen, der irgendwelche Ausreden hatte, wollte endlich leben!

Schluchzend griff ich nach dem Telefon.
"Ich hab doch nicht viel Zeit!", weinte ich ihm entgegen und beendete dieses Drama.

Vera Stein, 29.01.2005

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